von Dr. Danijel Paric
In seiner berühmten Schrift „Was ist Aufklärung?“1 erhebt Immanuel Kant die Fähigkeit, sich „[des] eigenen Verstandes zu bedienen“, zum Leitspruch einer Epoche, die er als Zeitalter der Aufklärung versteht. Voraussetzung für den Gebrauch des eigenen Verstandes ist der Mut, die eigene Unmündigkeit zu überwinden. Mündigkeit meint dabei die Fähigkeit zur selbstständigen Lebensführung sowie zum eigenverantwortlichen Urteilen und Entscheiden.
Dieser Ansatz findet sich in der Zielsetzung der politischen Bildung wieder: die Erziehung des Menschen zu einem mündigen Subjekt einer demokratischen Gesellschaft. Nach Theodor Adorno ist die Demokratie eine Gesellschaft von Mündigen, welche kognitive Anstrengung und kritisches Denken fördert.2 Erziehung zur Mündigkeit bedeutet dabei nicht zwangsläufig eine Erziehung zur Demokratie. Müdigkeit schließt eine blinde Hörigkeit zu jeglicher Staatsform – auch zur Demokratie – aus. Auch in einer demokratisch-freiheitlichen Ordnung darf politische Bildung nicht einer Systempropaganda münden!
Elemente der politischen Bildung sind verschiedene Qualitäten, wie politisches Wissen als konzeptionelles Deutungswissen, politisches Verantwortungsbewusstsein als moralisches Verantwortungsbewusstsein. Dieses politische Verantwortungsbewusstsein schließt ein Mindestmaß an Aufmerksamkeit für die Politik, das Handeln zum Wohl des demokratischen Gemeinwesens und eine rationale politische Sicht auf die Dinge ein. Ein weiteres Element der politischen Mündigkeit ist die Bereitschaft zur politischen Partizipation bzw. zum Engagement. Diese setzt jedoch das Wissen über die Möglichkeit zur politischen Aktivität, die Bereitschaft zur Anstrengung sowie die Fähigkeit zur Abschätzung von Erfolgsaussichten voraus.
Unkonventionelle Formen der politischen Bildung können dabei helfen, die politische Bildung attraktiver und zugänglicher zu gestalten. Beispiele dafür sind Möglichkeiten zur direkten Mitgestaltung, aber auch zur Mitbestimmung an Projekten, die das Gemeinwohl betreffen. Dieser Ansatz eröffnet die Möglichkeiten, über die Verbesserung des Status quo hinaus Visionen über die Zukunft zu entwerfen. Das utopische Denken ist nicht nur der existenzielle Sauerstoff einer demokratischen Gesellschaft, sondern auch ein Reservoir für konkrete Ideen zur Bewältigung aktueller, aber auch zukünftiger Herausforderungen.
In welcher Welt wollen wir leben? Diese konkrete Frage, die besonders junge Menschen bewegt, ist ohne utopisches Denken nur oberflächlich und anhand althergebrachter Lösungsvorschläge zu beantworten. Dem Spruch des Altkanzlers Helmut Schmidt, wonach das Erblicken von Visionen eine medizinische Behandlung erfordert, ist vehement zu widersprechen. Einer der Zukunft zugewandten politischen Bildung ist ein utopisches Element immanent. Besonders unter den akuten Herausforderungen des Klimawandels ist es entscheidend, das kritische Potenzial von utopischen Zukunftsbildern vollständig zu entfalten und dabei weite Teile der Bevölkerung miteinzubeziehen.
Beitrag von Mai 2023
Quellen
1 Zuerst erschienen unter dem Titel „Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?“, in: Berlinische Monatsschrift, Dezember 1784, S. 481–494, hier S. 481. Online verfügbar unter: https://www.rosalux.de/fileadmin/rls_uploads/pdfs/159_kant.pdf.
2 Siehe Theodor W. Adorno: „Erziehung – wozu?“ (1966), in: ders.: Erziehung zur Mündigkeit. Vorträge und Gespräche mit Hellmut Becker 1959–1969, hrsg. von Gerd Kadelbach. Frankfurt/Main 1971, S. 105–119.
Ein Projekt der Bewegung für Radikale Empathie in Kooperation mit O-Team e. V. Mit freundlicher Unterstützung des Kulturamts der Stadt Stuttgart und der Wüstenrot Stiftung.
Realisierungspartner:innen
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