von Dr. Niklas Kästner und Dr. Tobias Zimmermann
Die verhaltensbiologische Forschung der letzten Jahre hat gezeigt: Wir haben unsere tierischen Verwandten lange unterschätzt. Die Erkenntnis, dass sie uns ähnlicher sind als oft angenommen, findet allmählich ihren Weg ins öffentliche Bewusstsein. Und das hat Konsequenzen.
Menschen und Tiere galten lange als zwei unterschiedliche Kategorien von Lebewesen. Heute wissen wir: Aus biologischer Sicht ist diese Einteilung nicht richtig. Wir Menschen sind lediglich ein winziger Ast auf dem weitverzweigten Stammbaum der Tiere – und folglich selbst welche. Um sich diesen Gedanken klarzumachen: Wir sind näher mit Schimpansen verwandt als diese wiederum mit Pavianen oder Kapuzineraffen. Entsprechend müssten wir also eigentlich von Menschen und anderen Tieren sprechen.
Unterschätzte Tiere
Zwar lässt sich nicht von der Hand weisen, dass wir Menschen ganz besondere Tiere sind. Mithilfe unserer außergewöhnlichen kognitiven und sozialen Fähigkeiten haben wir die Welt auf unvergleichliche Weise verändert. Doch die verhaltensbiologische Forschung der vergangenen Jahrzehnte hat eindrucksvoll verdeutlicht, dass die übrigen Tiere uns nicht nur verwandtschaftlich deutlich näherstehen, als wir lange angenommen haben: Auch im Hinblick auf ihre Eigenschaften und Fähigkeiten haben wir sie oftmals gewaltig unterschätzt. Als Resultat dessen hat sich unser Blick auf sie so sehr gewandelt, dass der renommierte Verhaltensforscher Norbert Sachser in seinem Buch Der Mensch im Tier sogar von einer Revolution des Tierbildes spricht.1
Tiere sind klüger als gedacht
Tatsächlich haben sich durch die wissenschaftlichen Erkenntnisse der vergangenen Jahrzehnte etliche angebliche Alleinstellungsmerkmale der Menschen in Luft aufgelöst. Ob vorausschauendes Denken, Werkzeugherstellung oder kreative Problemlösung – in mehr oder minder ausgeprägter Form finden wir diese Fähigkeiten auch bei nicht-menschlichen Tieren. Sei es ein Rabe, der anstelle eines Futterstücks einen Flaschendeckel wählt, wenn er diesen später gegen eine beliebtere Belohnung eintauschen kann2, eine Geradschnabelkrähe, die ein Stocherwerkzeug mit Haken anfertigt3, oder ein Orang-Utan, der Wasser in eine Röhre spuckt, um an eine darin befindliche Erdnuss zu gelangen4.
Tiere haben Persönlichkeit
Doch unser gewachsenes Wissen über Tiere betrifft längst nicht nur ihre Denk- und Lernleistungen. Wissenschaftliche Untersuchungen haben gezeigt, dass Tiere derselben Art unterschiedliche Charaktere besitzen, dass manche von ihnen dauerhaft mutiger, geselliger oder friedliebender sind als andere.5 Und das gilt nicht etwa nur für Säugetiere und Vögel, sondern auch für Tiergruppen, die uns weniger nahestehen, wie Fische und Insekten.
Tiere haben ein Sozialleben
Auch in Bezug auf das soziale Leben unserer tierischen Verwandten haben wir dazugelernt. Die Vertreter vieler Arten pflegen teils enge soziale Beziehungen zu Artgenossen, die sie oftmals einen großen Teil ihres Lebens begleiten – darunter Delfine, Elefanten, Fledermäuse und verschiedene Affenarten. Und wie bei uns auch haben häufig die sozialen Erfahrungen insbesondere während früher Lebensphasen großen Einfluss auf das spätere Verhalten. So sind ausgewachsene Ratten beispielsweise weniger ängstlich, wenn sie in den ersten Lebenswochen besonders ausgiebig von ihrer Mutter umsorgt werden.6
Tiere können fühlen
Nicht zuletzt ist inzwischen deutlich geworden, dass wir auch der Empfindungsfähigkeit von Tieren lange zu wenig Bedeutung beigemessen haben. Basierend auf den Ergebnissen verhaltens- und neurobiologischer Forschung können wir beispielsweise mit hoher Wahrscheinlichkeit davon ausgehen, dass alle Säugetiere und Vögel ähnliche Emotionen empfinden wie wir – etwa Freude, Furcht, Wut und Traurigkeit.7 Und die Fähigkeit, Schmerzen zu empfinden, wird heute nicht nur bei allen Wirbeltieren – inklusive der Fische8 – wissenschaftlich anerkannt, sondern auch bei Wirbellosen wie Zehnfußkrebsen9, zu denen unter anderem die Hummer gehören.
Tiere leiden unseretwegen
Unsere tierischen Verwandten sind uns also wesentlich ähnlicher, als wir lange gedacht haben. Diese Erkenntnis ist insbesondere deshalb so bedeutsam, weil sich unser Handeln in vielen unterschiedlichen Bereichen direkt und indirekt auf sie auswirkt. Wir halten sie als soziale Gefährten in unserem Zuhause, wir lassen sie für uns Milch oder Eier produzieren oder wir töten sie, sei es wegen ihres Fleisches oder weil wir sie als Schädlinge einstufen. Zudem verschmutzen oder zerstören wir den Lebensraum von zahllosen Tieren – von den dramatischen Folgen des menschengemachten Klimawandels ganz zu schweigen.
Je mehr wir über das Denken und Fühlen nicht-menschlicher Tiere wissen, desto deutlicher wird, wie viel Leid wir ihnen zugefügt haben und immer noch zufügen – denn dass viele von ihnen unseretwegen leiden, lässt sich nicht mehr ernsthaft bestreiten. Das ist eine bittere Erkenntnis. Doch die gute Nachricht ist: Es tut sich etwas.
Grund zur Hoffnung
Unser neues Wissen dringt ganz allmählich in das öffentliche Bewusstsein vor und ermöglicht eine faktenbasierte Diskussion über unsere Verantwortung gegenüber den anderen Tieren. Erfreulicherweise gibt es immer mehr Menschen, die unseren bisherigen Umgang mit ihnen kritisch hinterfragen und zu dem Schluss kommen, dass sich etwas ändern muss. Und in manchen Bereichen finden solche Veränderungen bereits statt: In der Schweiz dürfen Hummer beispielsweise seit 2018 nicht mehr ohne Betäubung in kochendes Wasser geworfen werden10, in den Niederlanden ist die Zucht mit extrem kurznasigen Hunden seit 2014 verboten11, da dieses Körpermerkmal häufig erhebliches Leid für die Tiere bedeutet, und bei der UN-Biodiversitätskonferenz 2022 haben sich rund 200 Staaten auf ein globales Weltnaturabkommen geeinigt, mit dem Ziel, bis 2030 etwa 30 Prozent der Land- und Meeresflächen auf der Erde unter Schutz zu stellen12.
Zugegeben: Dies sind bloß kleine Schritte auf dem Weg zu weniger Tierleid. Doch sie machen Hoffnung. Wir sollten sie als Ansporn sehen, uns weiterhin für unsere Verwandten starkzumachen. Denn auch das gehört zur Wahrheit: Ob durch unsere Kaufentscheidungen, unser gesellschaftliches Engagement oder unsere Stimmen bei der nächsten Wahl – wir alle können dazu beitragen, dass sich die Lage für die anderen Tiere verbessert.
Beitrag von Mai 2023
Literaturempfehlungen
Norbert Sachser, Niklas Kästner, Tobias Zimmermann (Hrsg.): Das unterschätzte Tier. Was wir heute über Tiere wissen und im Umgang mit ihnen besser machen müssen, Hamburg 2022.
Norbert Sachser: Der Mensch im Tier. Warum Tiere uns im Denken, Fühlen und Verhalten oft so ähnlich sind, Reinbek bei Hamburg 2018.
Quellen
1 Siehe Norbert Sachser: Der Mensch im Tier. Warum Tiere uns im Denken, Fühlen und Verhalten oft so ähnlich sind, Reinbek bei Hamburg 2018.
2 Siehe Can Kabadayi, Mathias Osvath: „Ravens Parallel Great Apes in Flexible Planning for Tool-Use and Bartering“, in: Science, 357, 2017, S. 202–204.
3 Siehe Gavin R. Hunt: „Manufacture and Use of Hook-Tools by New Caledonian Crows“, in: Nature, 379, 1996, S. 249–251.
4 Siehe Natacha Mendes, Daniel Hanus u. a.: „Raising the Level: Orangutans Use Water as a Tool“, in: Biology Letters, 3, 2007, S. 453–455.
5 Siehe Judy Stamps, Ton G. G. Groothuis: „The Development of Animal Personality: Relevance, Concepts and Perspectives“, in: Biological Reviews, 85, 2010, S. 301–325.
6 Siehe Christian Caldji, Beth Tannenbaum u. a.: „Maternal Care during Infancy Regulates the Development of Neural Systems Mediating the Expression of Fearfulness in the Rat“, in: PNAS, 95, 1998, S. 5335–5340.
7 Siehe Elizabeth S. Paul, Shlomi Sher u. a.: „Towards a Comparative Science of Emotion: Affect and Consciousness in Humans and Animals“, in: Neuroscience and Biobehavioral Reviews, 108, 2020, S. 749–770.
8 Siehe Donald Broom: „Fish Brains and Behaviour Indicate Capacity for Feeling Pain“, in: Animal Sentience, 3, 2016.
9 Siehe Robert W. Elwood: „Potential Pain in Fish and Decapods: Similar Experimental Approaches and Similar Results“, in: Frontiers in Veterinary Science, 8, 2021.
10 Siehe „Hummer dürfen nur noch betäubt gekocht werden“, in: SRF, 10.01.2018.
11 Siehe Titus Arnu: „Warum die Niederlande verbieten, Möpse zu züchten“, in: Süddeutsche Zeitung, 06.06.2019.
12 Siehe „Gipfel einigt sich auf Naturschutzabkommen“, in: Tagesschau, 19.12.2022.
Ein Projekt der Bewegung für Radikale Empathie in Kooperation mit O-Team e. V. Mit freundlicher Unterstützung des Kulturamts der Stadt Stuttgart und der Wüstenrot Stiftung.
Realisierungspartner:innen
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